Noch bevor ich mir selbst meine eigenen Geschichten erzählen konnte, habe ich sie von meiner Mutter eingeflüstert bekommen. Die ganze Kindheit eine Geschichte. Dann ein Tagebuch voller Tränen und Enttäuschungen und unerwiderten Lieben. Geschichten auf der orangefarbenen Schreibmaschine mit zwei Fingern abgetippt. Das ganze Leben eine Geschichte. Das ganze Leben ein Buch, das Buch aller Bücher.
Und wenn man irgendwann überraschend das Meer gegen einen prächtigen Schlossgarten austauscht, in dem alles neu und fremd und ungewöhnlich ist, geht man auf die Suche nach dem Vertrauten, nach der Geborgenheit – und findet sie in einem wunderschönen, alten Gebäude, wo keiner meinen Namen kennt, ich aber so viele; wo gute, hart- oder weichgebundene Freunde einen mit offenen Armen erwarten, geduldig und wohlgesinnt. Und es macht nichts aus, wenn sie, samt allen ihren Buchstaben und ihrem betörenden Geruch, mehrmals umziehen und die Adresse ändern, denn alle Wege führen zu ihnen. Zu den langen Regalreihen voller Abenteuer und Spannung, Freundschaft und Zuneigung, Trauer und Happyends. Wo große auf kleine Gedanken treffen, wo das Unaussprechbare ausgesprochen wird, mal klar, mal undeutlich, mal hinter hundert Schlössern verschlossen, die sich von alleine öffnen, wenn man drei Fragen richtig beantwortet hat. Man ist angekommen, man ist zu Hause angekommen – und dann kann man das Meer auch im Schlossgarten riechen.
So wird aus einer Lebensgeschichte eine Liebesgeschichte.
Und wenn endlich ein Traum wahr wird und wenn man endlich eine eigene Geschichte veröffentlicht, und wenn sich herausstellt, dass viele, sehr viele diese Geschichte lesen wollen, und wenn diese Geschichte ihren Platz auf einem der unzähligen Regalbretter findet, endlich endlich, dann melden sich die bis dahin unbekannten Freunde und wollen mitfeiern, wollen das Glück teilen, es vermehren, verbreiten, verstärken – jeden Tag, jede Stunde und immer wieder.
So wird aus einer Liebesgeschichte eine Erfolgsgeschichte.
Wie viel mir die Stadtbibliothek bedeutet und wie sehr ich an ihr hänge und wie wichtig mir die Menschen dort sind – das wissen schon nicht nur die Spatzen auf den Dächern, sondern auch Meisen und Störche und Tauben. Was wir schon alles zusammen erlebt haben! Wo wir überall waren! Weder Paris noch Makarska noch Toskana noch München noch New York noch einsame adriatische Inseln waren vor uns sicher! Wir versteckten uns kichernd auf einsamen dalmatinischen Felsen, saßen händehaltend zwischen Zypressen am Grab der Eltern, überlebten den großen Sturm ohne Strom und ohne Auswege, spielten Jazz-Konzerte in dunklen Musikkellern – und als wir erschöpft und selig dann die Augen aufmachten, waren wir wieder zu Hause, zwischen den langen Bücherreihen und konnten uns erinnern, zusammen zurückschauen, zusammen jung bleiben. Einatmen, ausatmen, das konnten wir gut.
So wurde aus einer Erfolgsgeschichte eine Freundschaftsgeschichte.
So wurde aus einer Freundschaftsgeschichte eine Lebensgeschichte.
Und sie gehen weiter, beide, unzertrennlich, immer weiter.
Voller Dankbarkeit und Liebe gratuliere ich meiner Stadtbibliothek und allen ihren wunderbaren, herrlichen Menschen zum 100sten Geburtstag – mögen wir weiterhin zusammen wachsen und zusammen feiern!
Nataša Dragnić
Erlangen, 10. Mai 2021