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    Lauras Lieblingskleid

    Kurzgeschichte

    Groß wie zwei Unterteller in ihrem Puppenhaus waren die Augen des Mannes. Und sie bewegten sich nicht. Der Mann saß ruhig im Strandkorb. Er war weiß im Gesicht wie Lauras Lieblingskleid. Sie hatte es zuletzt auf der Hochzeit ihrer Kusine angehabt. In den Haaren trug sie einen Kranz aus weißen Rosen und ihr Blumenkorb war voller weißer Rosenblätter. Sie war das Blumenmädchen. Das erste Blumenmädchen. Tanja war nur das zweite und das gefiel ihr ganz und gar nicht. „Ich gebe dir meine neue Puppe, wenn du mich als erste gehen lässt“, sagte sie zu Laura. Es war für Laura nicht leicht, nein zu sagen. Tanjas neue Puppe konnte sprechen, weinen, lachen UND gehen! Sie schloss die Augen fest und zählte bis zehn. Sie atmete tief durch. Das hatte sie von Frau Wecker im Klavierunterricht gelernt. „Wenn du aufgeregt bist, Liebes, wenn deine Hände zittern und du denkst, du hast alles vergessen und wirst keine einzige Note schaffen, dann mach die Augen zu, mein Kind, atme tief ein und im Nu wirst du ruhig sein“, so sprach Frau Wecker zu ihr und Laura hatte es schon dreimal getestet, jeweils vor einem Konzert, und es hatte immer geklappt. Also atmete Laura tief ein und aus, ein und aus, ein und aus und sie machte die Augen auf und blickte tapfer in Tanjas erwartungsvolle, siegessichere Augen – Laura mochte Tanjas Augen nicht, sie waren irgendwie farblos und klein – und sagte: “Nein.“ Einfach so. Klar und deutlich. Mutter hatte ihr das beigebracht, klar und deutlich zu sprechen. „Dann verstehen dich die Leute gleich und du musst dich nicht wiederholen.“ Tanja sah sie mit offenem Mund an. Laura dachte, das sei kein schöner Anblick, sagte aber nichts, drehte sich um und ging weg. Es war eine wunderbare Hochzeit gewesen und Laura hatte alles richtig gemacht. Als ihr Blick den ihrer Mutter traf, sah sie Tränen in ihren Augen, sie glitzerten wie die Perlen um ihren Hals. Die Augen des Mannes im Strandkorb glitzerten nicht. Überhaupt nicht. Und obwohl die Sonne hoch am Himmel stand – es war Mittag, alle waren essen gegangen und Laura hatte versprochen, gleich nachzukommen, wenn sie mit ihrer Sandburg fertig geworden wäre – und direkt in sein Gesicht schien, störte es ihn nicht! Ohne zu blinzeln starrte er die Sonne an. Es war schlecht für die Augen, das wusste Laura genau, denn ihr hatte man es schon vor vielen Jahren verboten und als sie es einmal doch tat, hielt sie nicht lange aus und war wie blind, alles um sie herum ging verloren und die Welt bestand aus lauter schwarzen Flecken. Sie tat es nie wieder. Sie sah auf den Eimer und die Schaufel in ihrer Hand. Es war sicher schon spät. Sie musste gehen. Aber etwas an diesem ruhigen Mann hielt sie fest. In ihrem Eimer war noch Sand. Laura überlegte kurz. Sie sah den Mann an. Dann den Eimer. Es war keine leichte Entscheidung. Und dann plötzlich hob sie den Eimer und leerte ihn mit einem Schwung ins Gesicht des Mannes. Sie machte gleichzeitig einen Satz zurück, zur Flucht bereit. Sie atmete schnell und ihre Wangen brannten vor Aufregung. Aber nichts geschah. Alles umsonst. Sie sah sich um. Das Meer wellte sich wie gelangweilt vor sich hin. Der Strand war fast leer, die wenigen Menschen lagen verschlafen und von der Sonne erledigt auf ihren grünen Liegestühlen. Laura konnte damit nichts anfangen. Sie mochte es nicht, wenn ihre Mutter sie dazu zwang, sich auch auf so eine Liege auszustrecken, „ausruhen“ nannte sie das. Als wollte Laura sich ausruhen, als hätte sie nichts Wichtigeres zu erledigen! Es gab auf dem Strand immer so viel zu tun. So viele Körbe, um die man herum laufen konnte! So viel Sand, mit dem man so viel bauen konnte! Laura schüttelte den Kopf. Merkwürdig. Die Sandkörner, die sie auf den Mann geworfen hatte, klebten in seinen Haaren – er hatte nicht besonders viele Haare, aber das machte Laura nichts aus, sie hatte einen Onkel, eigentlich war er gar kein richtiger Onkel von ihr, sie musste ihn nur so nennen, Onkel Fred, und der hatte überhaupt keine Haare, seine Kopfhaut war sehr dünn, fast durchsichtig und sie glänzte wie eingeschmiert, und es sah meistens so unheimlich aus, dass sie Angst bekam und wegsehen musste. Der Sand hing auch überall an dem Gesicht des Mannes, an der Nase, im Mund und sogar in den Augen. Laura zog die Stirn zusammen, so lange bis sie spürte, dass sich darauf Falten bildeten. Sie hatte oft beobachtet, wie sich solche Falten nicht nur auf der Stirn sondern über das ganze Gesicht verbreiteten, zum Beispiel bei ihrer Mutter, wenn sie mit der lauten, kreischenden Frau telefonierte – Laura hatte sie einmal kennen gelernt und sofort auf ihre Liste der ungemochten Personen gestellt – oder über eine Frage nachdenken musste, die Laura gar nicht so schwierig fand. Sie fand aber diese Falten zauber-voll! So wichtig! Wie Magie kamen sie ihr vor, so wie sie aus nichts entstanden. Und jetzt musste sie auch nachdenken, wie ihre Mutter, aber natürlich über viel wichtigere Sachen, denn es störte sie sehr, dass der Mann ruhig da sitzen konnte, obwohl seine Augen voller Sand waren! Es musste schrecklich brennen und jucken und wehtun! Schon bei dem Anblick musste Laura blinzeln! Sie beugte sich langsam und vorsichtig zu ihm und dabei stieß sie an seinen Fuß. Sie sprang zurück und fiel fast um, vor Schreck ließ sie den Eimer und die Schaufel fallen. Ihr Herz raste. Sie vergaß zu atmen, vor allem vergaß sie aber Frau Wecker und ihre Ratschläge. Sie starrte den großen, weißen Fuß, der halb aus dem Sand hervorragte und sie musste an ihre Großmutter denken, die alt und weiß und kalt auf einem Bett lag und schlief und sich nicht bewegte, auch wenn Laura ihre Hand genommen und ihre Wange berührt hatte. Sie hatte ihre Mutter angesehen, die neben ihr stand und ihre Hand hielt und sie anlächelte, obwohl ihr Tränen über das ganze Gesicht liefen. „Es ist alles in Ordnung“, sagte sie, obwohl völlig klar war, dass nichts in Ordnung war. Genauso wie jetzt. Nichts war in Ordnung. Laura versuchte ihre Beine in Bewegung zu setzen. Die steckten aber im Sand fest wie einbetoniert. Das hatte Laura in einem Zeichentrickfilm gesehen. Es war sehr lustig, wie sich der Kater angestrengt hatte, nichts hatte ihm aber helfen können. Und die Maus hatte natürlich gelacht … Laura sah sich um. Hier lachte niemand. Das Meer schäumte hinter ihr und gab gelangweilte Töne von sich. Sie wendete sich dem Mann wieder zu und musste staunen: Eine große Möwe saß auf seiner Schulter. Weiß wie Lauras Lieblingskleid.