• 20150928 071112

    Rückwärts, ins Licht

    Kurzgeschichte

    Sein Name wie ein Stempel auf ihrem stummen Mund. Sie betrachtete sein Profil, während er anfuhr und anhielt, anfuhr und anhielt und vor sich her murmelte, seine Gesichtszüge angespannt und müde. Die Sommerhitze blieb ausgeschlossen aber hartnäckig an den Scheiben kleben, sogar hier im Tunnel. In einem von gefühlten Hunderten, die sie heute durchfahren mussten auf dem Weg nach Hause. In dem sie aber schienen, stecken zu bleiben. „Wahrscheinlich ein Unfall“, sagte er leise, und dennoch konnte sie seine Verdrossenheit und Unmut deutlich hören. „Wäre er dann nicht gesperrt? Man lässt die Autos dann gar nicht rein …“ „Was weiß ich! Wir stecken hier fest, das ist sicher.“ Sie erwiderte nichts, wendete den Kopf von ihm ab, versuchte sich abzulenken, ihre Traurigkeit, ihr Unglücklichsein. Sie überlegte kurz, ob es hülfe, wenn sie ihm sagte, dass es in ihren Armen nur für ihn Platz gäbe. Oder zwischen ihren Beinen. „Wir kommen hier nie raus.“ Ob sie ihm die Hand auf den Oberschenkel legen sollte, ob er sie dann ansehen würde. Und wie. Ob sie die Hand ruhig da liegen lassen oder lieber drüber streicheln sollte. Ob es etwas bringen würde, ihren Kopf an seine Schulter zu legen. Augen zu. Träumen, sich vorstellen, sich etwas vormachen. Er schlug mit der Hand auf das Lenkrad, und sie erschrak, blieb aber unbeweglich auf ihrem Beifahrersitz, schluckte alles runter, die Hilflosigkeit und die Aussichtslosigkeit des schon ewig andauernden Augenblicks. Der Augenblick wie ein Tunnel. Sie freute sich plötzlich, dass die Kinder bei seinen Eltern geblieben sind, während es in ihrem Kopf anfing zu summen. Ein Liebeslied, das ihr schon seit Jahren als Auffang diente und sie beim klaren Verstand hielt. Sie schloss die Augen, dachte an ihr Wohlfühlbild. An ihr Ich-bin-in-Sicherheit-Bild. Die zwei verschiedene waren, in denen sie sich vom ganzen Herzen austoben konnte und sie mit Sonne, Meer, Kuchen, Hitze, Kieselsteinen, Schokolade, leichter Brise, warmen Regentropfen, stark duftenden Kaffee, zarten Haut ihrer Kinder, dem frühmorgenlichen Taugeruch und grellen Farben vollgestopft hatte. „Wären wir nur heim geblieben!“ Der Wagen rollte einige Meter, blieb wieder stehen, der Motor stotterte leicht. Irgendwo hinter ihnen hupte es ungeduldig, fordernd. Wenn sie ihm sagte, er sei ihr Leben, lächelte er dann sein schönstes, liebevollstes Lächeln, an das sie sich kaum noch zu erinnern vermochte? Die Beleuchtung im Tunnel ging aus, und er fluchte so laut, dass sie zusammenzuckte. Dann spürte sie seinen Blick auf sich, sie schaute aber geradeaus, als wäre nichts. Er berührte leicht ihren Arm, der sich versteifte, versuchte sich zu verstecken, zu verkriechen. Sie sah ihn an, unsicher aber mit einem Lächeln, das nichts sagte, auch nicht schrie, das einfach da war, als würde es nicht zu ihr gehören. Nach einigen Sekunden richteten sie beide ihre Blicke wieder nach vorne, zur Straße, zu den Autos, die standen und standen, als wäre es ihre Bestimmung. „Willst du eine rauchen?“ „Ja.“ Also teilten sie sich eine Zigarette. Als wäre damit alles gesagt und geklärt und sogar entschieden. Das Deckenlicht ging wieder an, eine Sirene heulte schrill auf, man hörte Stimmen im Tunnel. Sie drückte schnell die Zigarette aus, er zog noch zweimal schnell und gierig an seiner, dann machte er es ihr nach. Jemand klopfte an das Fahrerfenster, er betätigte den Knopf, und ein junger Polizist erklärte ihnen, sie würden versuchen, die Autos rückwärts aus dem Tunnel hinaus zu navigieren, da vorne wäre ein schwerer Unfall geschehen, man bräuchte Platz für den Krankenwagen, aber keine Sorge, es könne nichts passieren, sie sollten sich dennoch beeilen. Der Polizist redete schnell und schwitzte dabei in der stinkenden, stickigen Luft. Dann fiel nach einem kurzen Flackern die Beleuchtung erneut aus, die Augen des Polizisten schnellten nach oben, verrieten sich, wurden sich dessen bewusst und kehrten gesenkt zurück. „Wie lange stecken sie schon hier drinnen?“ „Zu lange“, sagte er mürrisch. „Lebenslänglich“, sagte sie und versuchte zu lächeln, als wäre es ein Witz. Dann traf sie zwei Augenpaare und verstummte, und schon war alles klar und entschieden, und die umständliche, zögerliche Fahrt ins Licht fing an.